Montag, 22.10.2018

10 Jahre SuH ‒ Teil 1:
Wie alles begann

 

Anfänge

Marco berichtet über die Anfangszeit: „Nachdem ich meine Berufsausbildung im Sommer 2004 erfolgreich beendet hatte, zog ich wieder bei meiner Mutter ein, denn einen Arbeitsplatz fand ich trotz vieler Bewerbungen zunächst nicht. Das Arbeitsamt schickte mich zwar zu diversen Trainings- und Weiterbildungskursen, aber mit dem Arbeitsplatz wollte es einfach nicht klappen. Dafür nutzte ich die Zeit, um mich intensiv mit meiner Pädophilie auseinander zu setzen.“ Mitten in der Pubertät hatte er erstmals bemerkt, dass bei ihm etwas anders war als bei Gleichaltrigen. Doch erst 2003, im Alter von 30 Jahren, traf ihn die Selbsterkenntnis wie ein Schlag, als er beim Schmökern im Lexikon der Tabubrüche (Arne Hoffmann) auf den Eintrag zur Pädophilie stieß. Darin wurde Gunter Schmidt folgendermaßen zitiert:


„Das ist die Tragik pädophiler Männer. Der große Unterschied an Macht und Einfluß, an Kenntnis und Wissen, an Abhängigkeit und Autonomie, vor allem aber die Disparität der Szenarien und die Differenz der Sexualität von Kindern und Erwachsenen machen pädophile Beziehungen heute unaufhebbar problematisch. Tragisch ist diese Situation, weil die sexuelle Orientierung des Pädophilen tief und strukturell bis in ihre Identität hinein verwurzelt ist. Die Pädophilie gehört zu ihnen wie die Liebe zum gleichen oder anderen Geschlecht beim Homo- oder Heterosexuellen, mit dem Unterschied, daß das eine grundsätzlich erlaubt, das andere, die Pädophilie, grundsätzlich verboten und seine Realisierung kaum möglich ist. Für diese Bürde, die Zumutung, ihre Liebe und Sexualität nicht leben zu können, verdienen sie Respekt, nicht Verachtung, Solidarität, nicht Diskriminierung.“

(Zitiert aus Gunter Schmidt: „Über die Tragik pädophiler Männer“,
Zeitschrift für Sexualforschung Nr.2/99)

Marco berichtet: „Beim Lesen dieser Zeilen war ich wie elektrisiert. Mir wurde schlagartig klar: ‚Das bin ja ich, das ist genau mein Leben, das da beschrieben wird!’ […] ich fühlte mich wochenlang nur noch niedergeschlagen und wusste überhaupt nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Glücklicherweise stand mir in dieser extrem schweren Zeit mein Therapeut zur Seite, bei dem ich schon einige Jahre in Behandlung war. Mit Ihm konnte ich offen reden, was mir sehr geholfen hat, auch in dieser dunklen Zeit nicht den Lebensmut zu verlieren.“ In der Folge wandelte sich die anfängliche Hoffnungslosigkeit allmählich in Aktivismus und er informierte sich umfassend über sein Problem. Besonders inspirierten ihn, wie er sagt, die Bücher von Erich Fromm. „In dieser Zeit schrieb ich meine ersten Texte, die noch heute auf SuH zu sehen sind, z.B. meine 15 Grundsätze oder meine Gedanken zum humanistischen Liebesbegriff.“

Über diese Phase der Selbsterkenntnis und ersten eigenen Orientierung erzählt Marco weiter: „Nachdem ich sie für mich selbst aufgeschrieben hatte, wollte ich meine Gedanken auch Anderen mitteilen, wozu ich den Weg über das Internet wählte.“ Im Sommer 2004 hatte er erstmals gewagt, sich in einem öffentlichen Diskussionsforum unter dem Namen „Marco“ als pädophil zu outen. Die ersten Reaktionen beschreibt er als „unerwartet positiv“, was ihm half den Mut zu finden, sich in weiteren Foren zu seiner Pädophilie zu bekennen und darüber zu schreiben.


Verantwortung für Kinder

„Ich schrieb weiter in vielen Diskussionsforen, wo ich sowohl positive als auch negative Erfahrungen machte.“ In einem dieser Foren lernte er im Herbst 2004 Stephan Doetsch kennen (alias „Zacharias“), der eine sehr ähnliche Einstellung zu seiner Pädophilie vertrat wie Marco. Mit ihm zusammen gründete er kurze Zeit später das Projekt „Verantwortung für Kinder“. Es war das erste Pädophilen-Forum im deutschsprachigen Raum, das sich ausdrücklich gegen Sex mit Kindern aussprach. „Etwas Vergleichbares hatte es bis dahin noch nie gegeben, von daher waren wir auch ein bisschen stolz auf unsere Leistung.“

Bei Verantwortung für Kinder sammelte Marco erste Erfahrungen in der Pädophilen-Selbsthilfe: „Wir hatten eine Arbeitsteilung, die sich schnell bewährte: Stephan kümmerte sich vorrangig um das Forum, während ich mich hauptsächlich um die Informationstexte kümmerte, die auf der Webseite veröffentlicht wurden. Später wurde mir gesagt, dass es wohl hauptsächlich meine Texte waren, die den seriösen Charakter des Forums ausgemacht hätten. Spontane Diskussionen waren dagegen nicht mein Ding. Hier ist es hauptsächlich Stephan zu verdanken, dass er den Forumsbetrieb am Laufen hielt und auf diese Weise einen ebenso wichtigen Beitrag zum Projekt leistete.“

Verantwortung für Kinder gab es noch ein drittes Teammitglied: eine jungen Frau und Mutter einer damals sechsjährigen Tochter, die sich im Forum „Mami mit Herz“ nannte. Stephan hatte sie über ein anderes Forum kennen gelernt. Marco berichtet, dass sich „Mami mit Herz“ sehr beeindruckt zeigte, wie verantwortungsvoll Stephan mit seiner Sexualität umging. „Stephan erzählte ihr von seiner Idee, ein Diskussionsforum für verantwortungsvoll lebende Pädophile zu gründen, die ganz bewusst auf das Ausleben ihrer Sexualität verzichteten. ‚Mami mit Herz‘ erklärte sich bereit, das Forum als Admin zu betreuen, denn weder Stephan noch ich hatten damals das technische Wissen, um so ein Forum zu betreiben.“

Noch im Dezember 2004 – nur gut drei Monate nachdem sich Marco und Stephan kennen gelernt hatten – ging Verantwortung für Kinder online. „Leicht hatten wir es am Anfang nicht“, berichtet Marco weiter. „Obwohl wir von Anfang an klar gestellt hatten, dass wir Sex mit Kindern kategorisch ablehnen, war es schwer, die Leute von unseren ehrlichen Absichten zu überzeugen. Wir bekamen viele üble Gästebucheinträge und auch Drohungen, uns und unser Tun der Polizei zu melden. Wir ließen uns davon aber nicht entmutigen und glaubten an unsere Visionen einer verantwortungsvollen Pädophilen-Selbsthilfe, die ein bewusstes Gegengewicht bilden sollte zu den Foren der radikalen Pädophilen-Szene, in denen Sex mit Kindern systematisch verherrlicht wird.“

Nachdem die ersten drei bis vier Monate überstanden waren, entwickelte sich Verantwortung für Kinder zunehmend positiv. Die Leute erkannten, dass die drei es wirklich ernst meinten mit ihrer Haltung, und die feindlichen Reaktionen wurden seltener. „Stattdessen meldeten sich immer mehr Leute im Forum an. Es entstanden interessante und lebendige Diskussionen. Sogar die Medien interessierten sich für uns. So hatte Stephan Ende 2005 mehrere Fernsehauftritte, darunter im ARD-Magazin „Polylux“ und auch für’s französische Fernsehen. Marco: „Auch ich wagte den Schritt an die Öffentlichkeit und ließ mich vom Lifestyle-Magazin NEON interviewen. In der Ausgabe vom Juni 2006 erschien ein ausführliches Porträt über mich und meinen Umgang mit meiner pädophilen Sexualität. Zum ersten Mal konnte ich meinen Weg und meine Ideen einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen. Der Artikel löste ein Echo aus, das wir nie für möglich gehalten hatten: Es gab fast nur positive Reaktionen, in denen mir Respekt und ausdrückliche Anerkennung gezollt wurden.“ Dieser NEON-Artikel ist hier zu finden, ein weiterer Artikel derselben Autorin, der Marco und Verantwortung für Kinder erwähnt, steht hier.

Doch wo Erfolg ist, da sind auch Neider. Marco berichtet, dass Pädophile, die Sex mit Kindern guthießen und sich in entsprechenden Foren austauschten, mit Spott und Häme auf den NEON-Artikel reagierten: „Schließlich wurde mir und dem Team von Verantwortung für Kinder damit eine öffentliche Aufmerksamkeit zuteil, die sich die radikale Szene immer gewünscht hatte, aber nie bekam.“ Nach Erscheinen des NEON-Artikels wurde das Forum von Mitgliedern dieser Szene regelrecht überschwemmt. „Die dahinter stehenden Absichten waren klar: Einige wollten uns unsere Art der Selbsthilfearbeit ‒ die sie als lästige Konkurrenz empfanden ‒ kaputt machen, andere versuchten sich den plötzlichen Bekanntheitsgrad unseres Forums zunutze zu machen, indem sie es als Werbeplattform für sich und ihre eigenen Ideen nutzten.“

Unter diesem Ansturm drohte dem Forum der Kollaps: „Angetreten waren wir als Hilfsangebot für pädophil empfindende Menschen, die verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität umgehen wollten, ohne sie auszuleben. Doch die vielen Anmeldungen aus der radikalen Szene führten diese Idee zunehmend ad absurdum. Ständig mussten wir uns mit höchst grenzwertigen Beiträgen auseinander setzen, in denen Sex mit Kindern zwar nicht offen propagiert, aber auf subtile Weise verharmlost wurde. Die klare Zielsetzung, die uns immer ausgezeichnet hatte, drohte mehr und mehr zu verwischen.“

Auch im Team führte das zu Uneinigkeit darüber, wie man mit diesem Problem umgehen sollte: „Wir haben lange darüber diskutiert, ob man die radikale Szene rigoros ausschließen sollte, oder ob man sich argumentativ mit ihnen auseinander setzen sollte. Wir waren uns einig, dass eine argumentative Auseinandersetzung zwar wünschenswert und auch notwendig ist, dass es aber extrem schwer ist, gegen die unglaubliche Penetranz dieser Nutzer anzukommen, die uns ständig mit neuen Beiträgen überfluteten. Ich geriet an die Grenze meiner Belastbarkeit. Nachdem ich endlich Arbeit gefunden hatte, musste ich mich mit ganzer Kraft auf meinen Job konzentrieren und hatte keine Zeit mehr, mich nach Feierabend noch mit nervenaufreibenden Forumsdiskussionen zu beschäftigen. Es fiel mir zwar schwer, aber ich sah keine andere Möglichkeit mehr, als meinen Job als Forumsmoderator aufzugeben und mich fortan nur noch im Hintergrund zu halten.“

Auch „Mami mit Herz“ und Stephan waren sich nicht mehr einig, in welche Richtung sie das Forum weiterführen wollten. Das führte schließlich dazu, dass das Team von Verantwortung für Kinder im Sommer 2006 endgültig auseinander ging.

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Das schien vorerst das Ende dieses neuen Ansatzes zu sein. Pädophile, die sich klar gegen Sex mit Kindern aussprechen – es wäre ja auch zu schön gewesen. Marco aber gab sich damit nicht geschlagen. Dazu, wie schließlich die heutige Webseite entstand, in der kommenden Woche mehr.

aktualisiert: 19.10.2018