Marco, der Gründer von Schicksal und Herausforderung, erzählt in diesem ergreifenden Bericht von seinen Erfahrungen mit einer fragwürdigen Gruppentherapie bis hin zum unfreiwilligen Outing vor dem Schachverein.
In diesem Bericht erzähle ich von einer Reihe sehr bewegender Erfahrungen, die ich im Zusammenhang mit meiner pädophilen Neigung gemacht habe. In einem Zeitraum von gut einem Jahr habe ich eine Vielzahl an Problemen kennen gelernt, mit denen man als Pädophiler konfrontiert werden kann. Es fängt an mit der Teilnahme an einer Gruppentherapie, wo ich das erste Mal einen anderen Pädophilen kennen lernte. Es geht weiter mit der Geschichte einer falschen Freundschaft und endet mit meinem unfreiwilligen Outing vorm Schachverein. Ereignet hat sich das Ganze in der Zeit von Juli 2004 bis Juni 2005, es war eine Zeit sehr nachhaltiger Erfahrungen und schwieriger Entscheidungen. Die Geschichte klingt haarsträubend und unglaublich, aber sie hat sich wirklich so zugetragen, nur die Namen der beteiligten Personen habe ich geändert.
Es begann im Juli 2004: Meine pädophile Neigung hatte mich wieder einmal sehr bedrückt, ich fühlte mich richtig depressiv. Mein Therapeut war im Urlaub, und die Sexualtherapeutin vom Uni-Klinikum war auch nicht zu erreichen. So hatte ich niemanden, mit dem ich über meine innere Not sprechen konnte. Da fiel mir jemand ein: Herbert, ein langjähriger Bekannter meiner Familie. Meine Mutter kannte ihn schon seit über zwanzig Jahren. Ich selbst kannte ihn auch schon seit Kindertagen. Herbert hatte sich immer sehr interessiert an mir und meiner Familie gezeigt. Es gab immer wieder Situationen, wo er mir geholfen hat, z. B. bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Von Beruf ist er Sozialarbeiter, arbeitet als Bewährungshelfer und hat auch eine therapeutische Ausbildung. Zu ihm hatte ich Vertrauen.
Ich habe ihn besucht und mich ihm anvertraut. Er ist sehr gefasst und verständnisvoll damit umgegangen und ich hatte den Eindruck, er wollte mir wirklich helfen. Im Laufe des Gesprächs erzählte er mir auch von seiner Arbeit als Bewährungshelfer. Er sagte, er habe auch einige Probanden, die wegen sexuellen Missbrauchs vorbestraft sind. Dann machte er spontan einen Vorschlag: „Lass uns doch einfach mal eine Pädophilen-Gruppe gründen!“ Zunächst fand ich die Idee ein bisschen befremdlich, bei der Bewährungshilfe mitzuarbeiten, aber dann dachte ich: Warum eigentlich nicht? Vielleicht kann ich hier etwas bewirken und straffällig gewordenen Pädophilen helfen. Dann erzählte er weiter, dass er bereits jemanden im Kopf habe, der für solch eine Gruppe in Frage käme: Ein Bauingenieur aus Süddeutschland, der übrigens auch gerne Schach spielt. Da schoss es mir wie elektrisiert durch den Kopf: Ein Bauingenieur aus Süddeutschland, der gerne Schach spielt, den kenn ich doch! Das kann doch nur der Christian aus dem Schachverein sein! Ich war einfach völlig perplex, aber wir leben in einer Kleinstadt, da können solche Zufälle passieren. Trotzdem: Diesen Hammer musste ich erst einmal verdauen!
Am nächsten Tag hatten wir das erste Treffen und tatsächlich, er war es: Christian aus dem Schachverein! Christian zeigte sich sehr einsichtig und gab zu erkennen, dass er sich ernsthaft mit sich und seiner Tat auseinander setzen will. Nach dem ersten Treffen war ich zufrieden und dachte: Das war wirklich eine tolle Idee von Herbert! Das zweite Treffen war noch interessanter. Herbert stellte uns eine befreundete Sozialarbeiterin vor: Sie hieß Heike, arbeitete in einem Kindergarten und interessierte sich von Berufs wegen für das Thema sexueller Missbrauch. Zunächst hatte ich einige Berührungsängste mit ihr und fragte mich: Kann sie als Kindergärtnerin überhaupt unvoreingenommen mit pädophilen Menschen umgehen? Ich merkte aber schnell, dass meine Sorge unbegründet war. Heike war sehr nett und ich verstand mich ausgesprochen gut mit ihr. Wir kamen schnell miteinander ins Gespräch, nicht nur über Pädophilie und sexuellen Missbrauch, sondern auch über ihre Arbeit. Ich hatte viele Fragen an sie als Pädagogin. Wir unterhielten uns darüber, was Kinder brauchen und wie man mit ihnen umgehen sollte. Es tat mir sehr gut, mich mit Heike zu unterhalten. Einerseits hatte sie als Pädagogin einen ganz anderen Blickwinkel auf das Thema, andererseits stand sie Christian und mir erstaunlich unvoreingenommen gegenüber.
Ich engagierte mich sehr für diese Gruppe, brachte meine 15 Grundsätze mit und wir unterhielten uns darüber. Im Internet recherchierte ich extra nach Fachartikeln, die ich ebenfalls ausdruckte und mitbrachte. Wir führten viele interessante Gespräche miteinander, zunächst sah alles sehr viel versprechend aus. Immer mit dabei: Christian, der vorbestrafte Pädophile, einsichtig und geläutert. Eines Tages dann der große Schock: Christian hatte mich zu sich nach Hause eingeladen und dort zeigte er sich plötzlich von einer ganz anderen Seite. Wir kamen miteinander ins Gespräch und er erzählte mir, Sex zwischen Kindern und Erwachsen sei doch längst nicht so gefährlich, wie das immer dargestellt wird. Im Gegenteil: „Körperliche Zärtlichkeiten“ zwischen Kindern und Erwachsenen hält er für wünschenswert und sogar für notwendig! Die Kinder wünschten sich das schließlich selbst und ergriffen oft genug sogar die Initiative, was also sollte daran verwerflich sein? Die ganzen Schutzgesetze würden viel mehr schaden als nützen und die Gesellschaft sei in dieser Hinsicht noch viel zu verklemmt. Er selbst hätte damals mit einem 6-jährigen Jungen zusammen onaniert. Der Junge hätte zu Hause davon erzählt und so sei alles herausgekommen. Er hätte aber den Eindruck gehabt, dem Jungen hätte das gut getan, er sei sich jedenfalls kaum einer Schuld bewusst.
Ich war wie erschlagen, auf so etwas war ich absolut nicht vorbereitet! Er hat mich sogar mit Pädo-Aktivisten wie Dieter Gieseking auf eine Stufe gestellt: „Du bist nichts Besseres als er, nur weil Du noch keinen Sex mit Kindern hattest. Den guten und den bösen Pädo, so einfach wie du glaubst, ist das nicht.“ So etwas musste ich mir die ganze Zeit anhören! Vor seinem Bewährungshelfer hatte er sich immer einsichtig gezeigt und nun präsentierte er sich plötzlich von einer ganz anderen Seite. Ich war wie erschlagen, mir fehlten regelrecht die Worte! Natürlich wusste ich, dass es Pädophile gibt, die so denken. Wenn man so jemandem aber ganz unvorbereitet gegenüber steht, dann ist das etwas ganz anderes. Heute hätte ich ihn in Grund und Boden gestampft, aber damals war ich in solchen Diskussionen noch unerfahren und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich fühlte mich zunehmend unwohler und sah zu, dass ich schnell wieder nach Hause kam. Mir war schlagartig klar geworden, dass ich mit diesem Mann niemals eine gemeinsame Basis finden würde. Ich spürte, dass mir der Kontakt mit ihm nicht gut tat. Am nächsten Morgen ging ich sofort zu seinem Bewährungshelfer und berichtete ihm, was sich zugetragen hatte. „Du dachtest, dieser Mann wäre einsichtig. Merkst Du gar nicht, dass er Dir nur Theater vorspielt? Wenn Du als Bewährungshelfer dabei bist, spielt er den Einsichtigen, aber wenn ich mit ihm allein bin, präsentiert er sich von einer ganz anderen Seite!“ Herbert war sichtlich irritiert und versuchte zu beschwichtigen. „Du hast Recht, aber du kannst nicht erwarten, dass er sich von heute auf morgen ändert, es ist ja schon viel Wert, dass er überhaupt zu dieser Gruppe kommt.“
Beim nächsten Treffen stellte ich Christian zur Rede und machte ihm klar, dass so eine Gruppe nur Sinn macht, wenn wir offen und ehrlich miteinander umgehen. „Sollte ich weiter den Eindruck haben, dass du ein doppeltes Spiel mit uns treibst, dann werde ich für diese Gruppe nicht mehr zur Verfügung stehen. Für so etwas gebe ich mich nicht her!“ Christian waren meine deutlichen Worte sichtlich unangenehm. Es sei nicht seine Absicht gewesen, mich zu täuschen, wenn ich das so verstanden hätte, dann täte ihm das leid. Seine Erklärung, die dann folgte, war allerdings unglaublich: Er sei schließlich nie gefragt worden, wie er über Sex mit Kindern denkt, folglich hätte er keinen Grund gesehen, seine Ansichten offen zu legen. „Was ich hier erzähle oder nicht, bleibt doch mir überlassen!“ Ich erwiderte ihm: „Christian, wenn du etwas verändern willst, dann müssen wir hier ehrlich miteinander umgehen. Ansonsten können wir uns das Ganze schenken!“
Im Laufe der Diskussion drehte er auf einmal den Spieß um und versuchte, mich als den Uneinsichtigen hinzustellen: „Du spielst jede Woche mit den Kindern Schach, meinst Du wirklich, dass das zu verantworten ist für jemanden, der pädophile Neigungen hat? Du solltest so verantwortungsbewusst sein und dich von Kindern fern halten.“ Er würde schließlich auch erst ab 20 Uhr kommen, wenn die Kinder wieder weg sind. Ich habe gekocht vor Wut: Ausgerechnet er, ein vorbestrafter Missbrauchstäter, erzählt mir etwas von Verantwortung! Für mich war es offensichtlich, dass er nur von seinen eigenen Problemen ablenken wollte, deshalb habe ich mich auf keine Diskussion mehr eingelassen. Der Gipfel war allerdings: „Das viele Schachspielen ist gar nicht gut, man soll Kinder nicht so früh auf der intellektuellen Ebene ansprechen. Viel wichtiger sind Zärtlichkeiten und Körperkontakt.“
Ich dachte nur noch: „Das darf doch alles nicht wahr sein, wo bin ich hier nur gelandet!“ Von Herbert kam gar nichts mehr, er schien heillos überfordert. Heike war zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr mit dabei, sie war kurzfristig in eine andere Stadt gezogen. Das fand ich sehr schade, denn die Gespräche mit ihr habe ich sehr vermisst. Sie wäre vermutlich die einzige gewesen, die mich jetzt noch ein wenig hätte unterstützen können. So aber war ich von nun an mit Christian und Herbert allein. Zwischendurch waren noch zwei weitere Sozialarbeiterinnen dabei, die Herbert von irgendwoher kannte und spontan eingeladen hatte. Beide waren ein- bzw. zweimal dabei, zeigten sich sehr interessiert und kamen dann plötzlich nicht mehr. Daraufhin habe ich ein paar deutliche Wort an Herbert gerichtet: „Herbert, das geht doch so nicht. Es kann nicht sein, dass immer wieder irgendwelche Leute neu dazu kommen, kurz Hallo sagen und sich dann nie wieder blicken lassen. So eine Gruppe ist doch kein Kaffeekränzchen, wo jeder kommen und gehen kann, wie er will. Da braucht man Leute, die regelmäßig dabei sind.“ Das konnte er nicht verstehen und hat beleidigt reagiert. In der folgenden Woche habe ich meinem Therapeuten erzählt, was ich alles erlebt habe. Sein Urteil war eindeutig: „Halten Sie sich da fern, das ist nichts für Sie! Sie gehören nicht mit diesem Mann zusammen, der hat eine ganz andere Problematik als Sie.“ Von Herbert war er auch nicht sonderlich begeistert: „Es ist auch nicht in Ordnung, wenn Herr ***** Sie als Hilfstherapeut einsetzt, das ist ein Missbrauch Ihrer Person.“ Die Psychologin vom Uni-Klinikum habe ich ebenfalls um Rat gefragt. Sie hat mich in meiner Meinung bestärkt und mir ebenfalls geraten, nicht mehr dort hinzugehen.
Das Unglaublichste an der ganzen Geschichte kommt aber erst noch. Eines Tages erfuhr ich von meiner Schwester: „Weißt Du gar nicht, dass Mama mit Herbert eine Affäre hat?“ Nun also der nächste große Schock: Der Mann, der sich mir als Therapeut anbietet, geht fremd mit meiner eigenen Mutter! Das war der Anlass, weshalb ich mich damals meiner Schwester gegenüber geoutet habe. Sie hätte sonst nicht verstehen können, warum mich dieses Affäre so bewegt. Ich habe bis heute nicht klären können, ob es wirklich so war, wie meine Schwester gesagt hat. Herbert hat alles abgestritten und gesagt, es sei rein freundschaftlich. Er kümmere sich um meine Mutter, weil sie einsam sei, aber alles nur rein professionell. Andererseits glaube ich meiner Schwester, wenn sie sagt: „Marco, ich bin doch nicht blöd! Ich habe mitgehört, wie die beiden miteinander reden und wie sie miteinander umgehen. Es ist sehr viel mehr als nur eine Freundschaft. Dieser Mann ist eiskalt, erst lässt er sich mit Mama ein und dann streitet er alles ab, nur um seine Haut zu retten.“ Meine Mutter stellte es wieder anders dar: „Es ist nur platonisch, denn er ist ja verheiratet und wird sich auch nicht scheiden lassen.“ Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte und weiß bis heute nicht, welche von den drei Versionen die richtige ist. Von nun an hatte ich aber ein Problem: Wie sollte ich jetzt noch unbefangen mit Herbert reden können, wenn er möglicherweise eine Beziehung mit meiner eigenen Mutter hat? Ich habe es ihm sehr übel genommen, dass er mir davon nie etwas gesagt hat.
Das war mir alles zu viel des Guten! Beim nächsten Treffen habe ich meinen Ausstieg aus der Gruppe erklärt. Es kam, wie ich es befürchtet hatte: Herbert hat es persönlich genommen! Zunächst zeigte er Verständnis, aber dann fing er an, auf subtile Weise Druck auszuüben. Er hat mir vorgerechnet, was er schon alles für mich getan hat. zum Schluss hat er es sogar noch auf die ganz miese Tour versucht: „Es kann ja sein, dass Du auch mal zu Unrecht in Verdacht gerätst. Es braucht ja nur mal ein Kind zu sagen: Der Marco ist mir an die Hose gegangen. Dann wird gegen dich ermittelt, dann wird man auch deinen Computer mitnehmen, dort wird man deine ganzen Unterlagen finden und dann kann ich mir vorstellen, dass du mich noch mal sehr brauchen könntest!“ Ich habe mich von Herberts Beeinflussungsversuchen habe ich mich nicht beirren lassen. Er dagegen hat weiter nachgetreten. So musste ich mir z. B. anhören, ich säße ja „auf so einem hohem Ross“ und würde mich für etwas Besseres halten. Irgendwann bin ich wütend geworden: „Du hast hinter meinem Rücken eine Affäre mit meiner Mutter, bist noch nicht einmal Manns genug, dazu zu stehen und wirfst mir vor, ich sitze auf einem hohem Ross?“ Da ist es laut geworden und wir sind im Streit auseinander gegangen. Und das alles vor Christian, den ich weiterhin im Schachverein sehen musste.
Nach diesem Tag im November 2004 war ich völlig fertig. Herbert habe ich seitdem nicht mehr gesehen und will ihn auch nicht mehr sehen. Christian und ich sind uns im Verein fortan aus dem Weg gegangen. Die Sache hat mich so aufgewühlt, dass ich mich auch meinem Vater gegenüber geoutet habe. Er ist zum Glück sehr gefasst damit umgegangen, mahnte mich aber eindringlich: „Halt dich bloß von diesem Herbert fern! Der will dir nichts Gutes, der benutzt dich nur!“ Ich sehe es heutem genauso: Herbert hat mich und meine Probleme benutzt, um damit zu experimentieren. Er hat gar nicht die Ausbildung und das Wissen, um so eine Gruppe zu leiten, was man schon daran sieht, dass er sich von Christian täuschen ließ. Er hat es anfangs vielleicht gut gemeint, aber letztendlich ist ihm die Sache über den Kopf gewachsen. Diese Gruppe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt: Kein Plan, kein Konzept, nur eine vage Idee. Dazu zwei Teilnehmer, die absolut nicht zusammen passten. Ein verantwortungsbewusster Therapeut hätte auch keine Affäre mit der Mutter eines Klienten angefangen. Rückblickend war es sicher nicht gut, dass ich mich diesem Mann anvertraut habe, aber wenigstens habe ich rechtzeitig den Absprung geschafft. Eine Frage aber blieb: Wie sollte es im Verein weitergehen? Ist es überhaupt zu verantworten, dass Christian sich in einem Verein aufhält, wo so viele Kinder sind? Andererseits hielt er sich an seine selbst gemachten Auflagen und kam nie vor 20 Uhr. Ich dachte, solange er den Verein benutzt, um mit anderen Erwachsenen in Kontakt zu kommen und sich von den Kindern möglichst fern hält, kann ihm das keiner übel nehmen. Trotzdem befand ich mich in einem Dilemma: Sollte ich jemals den geringsten Anhaltspunkt dafür finden, dass Christian sich auch an den Kindern im Verein vergeht, wäre ich gezwungen, ihn auffliegen lassen, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich damit selbst oute! Ich hoffte inständig, dass es niemals dazu kommt.
Die Erlebnisse bei der Bewährungshilfe haben mich noch lange beschäftigt und sind mir gerade im Schachverein immer mehr zur Belastung geworden. Dort liefen Christian und ich uns weiterhin über den Weg, wodurch ich immer wieder an die Vorkommnisse in der Gruppe erinnert wurde. Gleichzeitig durfte niemand im Verein wissen, was Christian und mich wirklich miteinander verband. Dieser Druck belastete mich immer mehr. Nur Geheimnisse über Geheimnisse, dazu das Gefühl, in der Gruppe bloß ausgenutzt worden zu sein – irgendwann konnte ich nicht mehr! Daraufhin habe ich einen Schritt getan, der sehr gewagt war: Ich habe mich einem Vereinskameraden anvertraut. Er hieß Richard, war Anfang vierzig, verheiratet und kinderlos. Ich kannte ihn seit gut einem halben Jahr, er war noch nicht lange im Verein und auch kein sonderlich starker Spieler. Eines Tages fragte er mich, ob ich Zeit und Lust hätte, ab und zu mit ihm zu trainieren. Ich nahm das Angebot gern an und so lernten wir uns auch privat kennen. Er war ein ganz anderer Typ als ich, aber ich spürte, dass er sich für mich als Mensch interessierte. Er hat mich regelmäßig zu sich eingeladen, hat mir zugehört und mich ernst genommen. So entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen uns. Ich habe mich sehr gefreut, dass ich jemanden gefunden hatte, mit dem ich mich so gut verstand. Gerade für mich als Pädophilen sind Kontakte zu anderen Erwachsenen sicher sehr wichtig. Ich lud ihn auch zu meinem Geburtstag ein und er machte mir ein ganz besonderes Geschenk: Ein richtiges Turnierschachspiel! Über so ein teures Geschenk war ich sehr angetan und dachte, so etwas schenkt man nur jemandem, den man wirklich mag.
Als der Kontakt allmählich enger wurde, ist es Richard nicht verborgen geblieben, dass ich seit Ende 2004 an der Homepage von „Verantwortung für Kinder“ mitgearbeitet habe. Er wusste zwar nicht, um was es ging, hat aber gemerkt, dass ich viel im Internet unterwegs war und mit anderen Dingen beschäftigt war als vorher. Irgendwann sprach er mich darauf an: „Irgendwas ist doch los mit dir, das merk ich doch. Irgendwas bedrückt dich doch.“ Er sagte, er mache sich Gedanken um mich, wir könnten doch über alles reden, er würde es auch für sich behalten. Er hat auch gemerkt, dass mit Christian etwas nicht stimmt. Er hatte mich schon mehrmals auf ihn angesprochen: „Sag mal, der Christian macht aber einen merkwürdigen Eindruck. Der kam mir schon immer komisch vor. Der ist Ingenieur, aber hat keinen Job und läuft rum wie`n Penner! Weißt du, was mit dem los ist?“ Eines Abends, zwischen Weihnachten und Neujahr, war ich wieder einmal zu Besuch bei ihm. Wir saßen gemütlich zusammen, als er anfing, mich regelrecht in die Zange zu nehmen. Irgendwann konnte ich mit meinem Geheimnis nicht mehr hinterm Berg halten und ehe ich mich versah, war ich redselig wie ein Wasserfall. Ich habe ihm die ganze Geschichte erzählt, von meiner pädophilen Neigung über die Gruppentherapie mit Christian bis hin zu unserer Homepage. Dabei fühlte ich mich seltsam befreit, fast wie in einer therapeutischen Sitzung.
Es war der situative Druck, dem ich nicht standhalten konnte. Richard hat zunächst alles erstaunlich gefasst aufgenommen. Ich merkte aber, dass es im reichlich zugesetzt hat und dass er so etwas absolut nicht erwartet hatte. Er glaubte mir, dass ich verantwortungsvoll mit meiner Neigung umgehen wollte, fragte aber: „Bist Du sicher, dass du das wirklich immer im Griff hast?“ Ich fragte ihn ganz direkt, ob er sich jetzt überhaupt noch vorstellen könnte, weiter mit mir befreundet zu sein. Er sagte ja, nur wenn ich meine Neigung ausleben würde, dann könnte ich nicht mehr auf ihn zählen. Ich war unheimlich erleichtert! Zwei Tage später rief er mich dann noch einmal an, wir haben uns getroffen und uns ausgesprochen. Er erzählte mir, dass ich ihm einen gehörigen Schock zugemutet hätte. Es wäre besser gewesen, ich hätte ihm nichts gesagt. Er hätte sich mit seiner Frau, einer gläubigen Christin, darüber beraten. Sie hätte sehr weise und besonnen reagiert. Es stünde ihnen nicht zu, über die Gefühle anderer Menschen zu urteilen. Gott hätte sich etwas dabei gedacht und hätte es auch gewollt, dass wir beide uns kennen gelernt hätten. Er sagte: „Solange sich das nur in deinem Kopf abspielt, kann und will ich dich nicht verurteilen.“
Am nächsten Vereinsabend sprach Richard mich noch einmal darauf an und gab mir zu bedenken, dass es besser gewesen wäre, ich hätte ihm nichts gesagt. Er würde es zwar für sich behalten, aber wenn ich auch nur ein einziges Mal einem Kind etwas antun sollte, dann müsste er sich im Nachhinein schwere Vorwürfe machen. Zumal noch ein zweiter Pädophiler, nämlich Christian, im Verein wäre und der sei schließlich nicht so einsichtig wie ich. Er gab mir den eindringlichen Rat: „Du musst lernen, in solchen Dingen einfach zu lügen, wenn dich jemand fragt, worauf du stehst!“ Er hätte zwar gemerkt, dass ich mich kaum für Frauen interessiere, aber: „Ich konnte doch nicht ahnen, dass sowas dahinter steckt!“ Einerseits konnte ich Richard verstehen; schließlich hatte ich ihm Dinge anvertraut, die sicher nicht leicht zu verdauen sind. Andererseits hat er mich aber regelrecht weich gekocht und eingelullt mit seiner Vertraulichkeit. Mir dann hinterher vorzuwerfen: „Wie konntest du mir das nur erzählen!“, das fand ich auch nicht fair. Es war also eine ganz schwierige Situation, auf die ich mich da eingelassen hatte. Dennoch lief die Freundschaft zunächst ganz normal weiter und ich dachte schon, die Sache hätte ein gutes Ende gefunden. Wir besuchten uns gegenseitig, spielten zusammen Schach und verabredeten uns zum Fahrrad fahren. Trotzdem spürte ich, das dieses dicke Geheimnis von nun an zwischen uns stand und uns auf ganz schwierige Weise miteinander verband.
Ungefähr drei bis vier Monate ist das halbwegs gut gegangen, doch es war eine trügerische Ruhe. Irgendwann merkte ich, wie Richard sich veränderte. Er fühlte sich immer mehr zum Glauben hin-gezogen, genau wie seine Frau wurde er zum Anhänger einer strenggläubigen Baptisten-Gemeinde und ging von nun an regelmßig in die Kirche. Stolz erzählte er mir, dass er jetzt regelmäßig in der Bibel lesen und ein frommer Christ werden wolle. Das ist natürlich nichts Schlimmes, aber dieser plötzliche Sinneswandel kam mir irgendwie merkwürdig vor. Dann drohte es das erste Mal zu eskalieren: Im Schachverein kam das Gerücht auf, Christian wolle jetzt Mitglied werden. Bisher kam er immer als Gast zu den Spielabenden und hat es kategorisch abgelehnt, in den Verein einzutreten. Damals in der Gruppe sagte er: „Wenn mal irgend etwas über meine Vergangenheit rauskommt, dann will ich den Verein nicht in Schwierigkeiten bringen.“ Als Gast könnte er schnell wieder verschwinden, ohne dass der Verein in ein schlechtes Licht gerät. Das war damals eines der wenigen Dinge, die ich ihm hoch angerechnet hatte. Nun aber hieß es, er wolle demnächst doch eintreten. Ich habe selbst erlebt, wie zwei Vereinskollegen ihn gedrängt haben: „Mensch, du bist schon so lange bei uns, willst du nicht langsam mal eintreten?“ Christian musste sich immer neue Ausreden einfallen lassen, um den wahren Grund zu verschleiern. Ich fürchtete schon, er könnte dem ständigen „Eintrittsdruck“ nicht mehr standhalten.
Das hat Richard mitbekommen und war auf einmal völlig aufgebracht: „Wenn Christian jetzt wirklich eintritt, dann mache ich das nicht mehr mit, dann werde ich nicht mehr meinen Mund halten!“ Er drängte mich, noch einmal mit Christian zu reden und ihn vom Eintritt abzuhalten. Am nächsten Vereinsabend nahm ich mir Christian kurz zur Seite, was mir sehr unangenehm war, schließlich musste ich ihm erklären, dass es im Verein einen Mitwisser gab. Christian hat es erstaunlich gelassen aufgenommen und meinte, er wolle gar nicht eintreten, das seien alles nur Gerüchte. Es sei auch kein Problem für ihn, weiterhin erst um 20 Uhr zu kommen. Als ich Richard davon berichtete, war er fürs Erste wieder beruhigt. Warum es für Richard so von Bedeutung war, ob Christian als Mitglied in den Verein kommt oder nur als Gast, habe ich bis heute nicht verstanden. Die Mitgliedschaft ist schließlich eine rein formale Angelegenheit, das eigentliche Problem liegt ja woanders: Entweder ist er eine Gefahr für die Kinder – dann darf er auch nicht als Gast kommen. Oder es geht keine Gefahr von ihm aus – dann spricht auch nichts gegen eine Mitgliedschaft. Die Gefahr wird ja nicht dadurch größer, dass er eine Beitrittserklärung unterschreibt. Ich vermute, die Sache hat Richard unterschwellig schon lange belastet, die Beitrittsfrage war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Richard machte mit der Zeit immer mehr Druck. Als wir wieder einmal miteinander telefonierten, fragte er mich ganz nebenbei, ob es nicht besser wäre, wenn ich auf das Jugendtraining verzichten und auch erst um 20 Uhr kommen würde, genau wie Christian. Ich war entsetzt, schließlich hatte er mir bis dahin immer ausdrücklich sein Vertrauen ausgesprochen! Ich fragte ihn, warum er mir denn jetzt auf einmal nicht mehr traut. Da rückte er mit der Sprache heraus: Er hätte mit dem Pfarrer seiner Baptisten-Gemeinde darüber gesprochen, denn die Sache hätte ihn immer mehr belastet. Der Pfarrer hätte gesagt, Christian und ich müssten uns beide strikt von den Kindern fern halten. Richard sollte ein klare Abmachung mit uns treffen: Wir dürften beide erst dann kommen, wenn die Kinder wieder weg sind! Wenn der Pfarrer in seiner Gemeinde so einen Fall hätte, dann würde er mit den Leuten einen Vertrag abschließen, dass sie nur zu genau festgelegten Zeiten kommen dürften. Was dann kam, war absolut unglaublich: Der Pfarrer hätte ihm geraten, er sollte mit uns auch so einen Vertrag abschließen! Außerdem hätte er ihm noch geraten, jemanden aus dem Vorstand des Vereins mit ins Vertrauen zu ziehen.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Was ist das für ein Pfarrer, der über Menschen urteilt, die er nie gesehen hat? Von Richard war ich genauso enttäuscht. Er hat mir immer zugesichert, dass er mir vertraut – und jetzt? Auf einmal ist die Meinung irgend eines Pfarrers offensichtlich wichtiger. Was ist aus unserer Freundschaft geworden, wo ist das Vertrauen geblieben? Ich erklärte Richard, dass es absolut keinen Grund gäbe, warum ich mein Engagement in der Jugendarbeit nach so vielen Jahren plötzlich einstellen sollte. „Ich habe nie einem Kind etwas getan und werde auch keinem Kind etwas tun. Deshalb gibt es keinen Grund für mich, irgend etwas anders zu machen als bisher.“ Richard hat es zähneknirschend hingenommen, überzeugt hat es ihn aber nicht, das merkte ich deutlich. Das war der Zeitpunkt, wo ich zum ersten Mal dachte: „Wie konnte ich nur so doof gewesen sein, mich so einem anzuvertrauen?“ Mir war aber auch klar: Es gibt kein Zurück mehr! Also musste ich da durch, es half alles nichts.
Von da an kam Richard immer wieder auf die gleiche Tour: Ich sollte mich doch bitte von den Kindern fern halten! Es gäbe doch keine Garantie, dass ich mich immer unter Kontrolle hätte, ich sei ja schließlich auch nur ein Mensch. „Wer garantiert mir denn, dass du nicht plötzlich austickst, wenn du wieder mal einem der Jungs gegenüber sitzt?“ Diese und ähnliche Fragen bekam ich von nun an immer wieder zu hören. Ständig versuchte er, mir vorzuschreiben, wie ich mich zu verhalten hätte: „Du spielst gerne Schach, das kannst du doch genauso gut mit Erwachsenen, warum musst du denn unbedingt mit Kindern spielen?“ Teilweise wurde er schon fast ungehalten: „Wenn ich weiß, bestimmte Dinge sind nicht gut für mich, dann halte ich mich davon fern, aber du suchst auch noch die Nähe zu Kindern – das verstehe ich nicht!“ So Langsam wurde ich sauer, ließ es ihn aber nicht spüren, um die Situation nicht noch weiter anzuheizen. Er fragte mich allen Ernstes, ob er mich überhaupt zu seinem Geburtstag einladen könnte, schließlich kämen da auch Leute mit Kindern! Spätestens da war mir klar: Diese Freundschaft, wenn es überhaupt jemals eine gewesen ist, war nicht mehr zu retten! Ich hatte sogar das Gefühl, Richard distanzierte sich von mir. Er meldete sich nicht mehr so oft und auch am Wochenende hatte er jetzt immer öfter etwas anderes vor.
Eines Tages spitzte sich die Situation noch weiter zu. Es war am Telefon, wir sprachen wieder einmal über Christian und mich. Richard erzählte, dass er sich immer noch große Sorgen machen würde. Auf einmal meinte er ganz nebenbei: „Christian und du, ihr seid schon zwei so gescheiterte Existenzen!“ Ich war entsetzt, wie er über mich denkt und dass er mich sogar mit Christian in einen Topf wirft. Die Bemerkung mit der „gescheiterten Existenz“ hat mich sehr verletzt, deshalb sprach ich ihn einige Tage später noch einmal darauf an. Er meinte nur: „Ja, tut mir leid, aber für mich bist du das!“ Seitdem war die Freundschaft für mich kaputt. Niemand hat das Recht, so über mein Leben zu urteilen! Wenn einem so eine Bemerkung im Streit herausrutscht, dann ist das eine Sache, so etwas kann ich verzeihen. Wenn jemand so ein Urteil aber hinterher noch ausdrücklich bekräftigt, dann ist das etwas anderes. Er hingegen tat so, als wäre nie etwas gewesen. Einige Tage später rief er wieder an und fragte unbekümmert: „Hi Marco, hast du Lust, heute zum Schachspielen zu kommen?“ Ich sagte ihm klipp und klar: „Richard, tut mir leid, aber das ist jetzt erstmal vorbei! So, wie du über mich gesprochen hast, das hat mich so verletzt, da kann ich nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Ich brauch jetzt erstmal Abstand!!“ Das konnte er absolut nicht verstehen und meinte nur „Du bist da einfach zu empfindlich, aber wenn du nicht kommen willst, dann eben nicht!“ Ich dachte nur: „Ja, ja, um dir das Schachspielen beizubringen, dazu ist die gescheiterte Existenz dann wieder gut genug!“
Ich überlegte fieberhaft, wie es weitergehen konnte, denn mir war daran gelegen, mich halbwegs fair von Richard zu trennen. Ich entschloss mich, ihm eine E-Mail zu schreiben und ihm noch einmal genau zu erklären, warum mich die Bemerkung von der „gescheiterten Existenz“ so sehr verletzt hat. Am nächsten Tag rief er wieder an und gab sich ausgesprochen lässig: „Marco, ist in Ordnung, du musst nichts mit mir zu tun haben, wenn du nicht willst.“ Für meine E-Mail hatte er nur einen geringschätzigen Kommentar übrig: „Briefchen schreiben, das ist doch keine Art!“: Dann kam er zur Sache: Da gäbe es noch etwas, das er nicht so einfach wegstecken könnte. Es ginge immer noch um Christian und mich. Die ganze Sache hätte ihm aus Sorge um die Kinder viele schlaflose Nächte bereitet, da sollte ich ihm doch bitte ein bisschen entgegen kommen. Ich antwortete ihm: „Richard, wir haben so viele Gespräche miteinander geführt. Ich weiß wirklich nicht, was ich noch tun kann, um dir deine Sorgen zu nehmen.“ „Doch“, meinte er selbstsicher, „das kannst du! Halte dich einfach von den Kindern fern, dann muss ich mir nicht mehr diese Sorgen machen.“ Dann wurde er noch ein wenig konkreter: Ich sollte doch auch bitte erst ab 20 Uhr kommen, genau wie Christian. Er wolle mich nicht vorm Verein outen, das wäre ihm sehr unangenehm. Allerdings müsste ich auch meinen Beitrag dazu leisten, schließlich hätte ich ihn in eine Sache hineingezogen, in die er nicht hineingezogen werden wollte. Daher sollte ich mich doch nun bitte ein bisschen entgegenkommend zeigen!
Ich dachte nur: Dieser miese Hund! Da habe ich mich ihm anvertraut und nun nutzt er das eiskalt aus! Ich war wie erschlagen und wusste überhaupt nicht mehr, was ich sagen wollte und versuchte, ihn erst einmal abzuwimmeln: „Okay, ich werde darüber nachdenken.“ Dann habe ich aufgelegt, mir war kotzelend zumute! Ich dachte nur: Das ist Erpressung, nichts als eine eiskalte, miese Erpressung! Dem geht es nicht mehr um die Kinder, der will nur noch seine Macht ausspielen! Monatelang hatte er nie ein Problem mit meiner Jugendarbeit, spricht mir sogar ausdrücklich sein Vertrauen aus. Dann zerstreiten wir uns und ausgerechnet an dem Tag, wo ich ihm die Freundschaft aufkündige, kommt plötzlich so eine Forderung! Für mich war es klar, was dahinter steckte: Richard war sauer auf mich, weil ich mir die „gescheiterte Existenz“ zu Herzen genommen hatte. Mir war klar, wenn er wirklich zum Vereinsvorstand geht und mich outet, dann kann ich meine Jugendarbeit vergessen. Dabei wusste er ganz genau, wie gern ich mit den Kindern zusammen bin und wie viel mir die Arbeit mit ihnen bedeutet. Er hat es in Kauf genommen, dass ich im Extremfall sogar den ganzen Verein verlassen muss. Ich war wahnsinnig enttäuscht von ihm!
Nun stand ich also mit dem Rücken zur Wand! Ich habe mich kurzfristig mit allen Leuten beraten, zu denen ich noch Vertrauen hatte: mit meiner Mutter, meinem Vater, meinem Therapeuten, der Sexualberaterin vom Uni-Klinikum und mit Stephan, meinem damaligen Kollegen von „Verantwortung für Kinder“, der mir in dieser Zeit ganz besonders beigestanden hat. Es war mir klar, dass ich mich auf keinen Fall erpressen lassen durfte. Wenn ich mich einmal darauf einlasse, kommt er mit immer neuen Forderungen und irgendwann hat er mich völlig in der Hand. Nachdem ich noch einmal mit meinem Vater und mit Stephan telefoniert hatte, nahm ich am nächsten Tag all meinen Mut zusammen und rief bei Richard an. Es war das schwerste Telefongespräch meines Lebens, mir pochte das Herz bis zum Hals! Ich machte es kurz und schmerzlos: „Richard, tut mir leid, aber ich werde mich auf deine Forderung nicht einlassen. Wenn du wirklich der Überzeugung bist, dass von mir eine Gefahr ausgeht, dann musst du zum Verein gehen und mich outen. Wenn du es aus Gewissensgründen tun musst, dann ist das eben so, aber hör auf, mich mit deinen Forderungen unter Druck zu setzen!“
Da wurde er richtig aggressiv: „Sag mal, Marco, hast du`n Schuss weg? Gestern dachte ich noch, man könnte vernünftig mit dir darüber reden. Ich weiß ja nicht, ob du wieder mit deinem Kumpel von dieser Homepage da gesprochen hast, aber offenbar bist du schlecht beraten worden! Aber wenn du das so willst, dann werde ich eben zum Vorstand gehen und dann musst du dir wohl demnächst einen neuen Verein suchen.“ Bevor ich etwas sagen konnte, hatte er schon wieder den Hörer aufgeknallt. Genau das hatte ich befürchtet: Richard war völlig durchgeknallt! Er war so aggressiv, ich wusste nicht, wozu er noch alles fähig sein würde. Am Abend habe ich meinen Vater angerufen, der sah das zum Glück etwas gelassener: „Super! Du hast den Mut gehabt, dieses miese Spiel zu beenden. Ist doch klar, dass der jetzt sauer ist, schließlich ist sein Spiel nicht aufgegangen!“
Mir ging es trotzdem nicht besser, denn ich war mir sicher: Richard wird seine Drohung war machen! Die ganze Sache hat mich unheimlich mitgenommen, ich stand zeitweise kurz vorm Nervenzusammenbruch. Als ich Richard vor gut einem Jahr kennen lernte, hätte ich niemals gedacht, dass es einmal so zwischen uns enden würde. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein, mich ihm jemals anzuvertrauen? Ich machte mir große Vorwürfe, aber was nützte es jetzt noch? Jetzt konnte es nur noch um Schadensbegrenzung gehen. Mit Stephan habe ich mich intensiv darüber beraten, wie es weiter gehen könnte. Wir haben überlegt, ob es angesichts des drohenden Outings nicht das Beste wäre, wenn ich jetzt selbst zum Vereinsvorsitzenden gehe und mich offenbare. Das wäre natürlich ein großes Risiko, aber was blieb mir jetzt noch anderes übrig? Bevor Richard es ihm sagt, soll er es lieber von mir selbst erfahren. Das schien mir die einzige Chance zu sein, noch halbwegs heil aus der Sache herauszukommen.
Ich habe also all meinen Mut zusammengenommen und mich an unseren 1. Vorsitzenden gewandt. Jörg ist ein intelligenter und besonnener Mann, der im Verein sehr geachtet ist. Ich war mir sicher, wenn einen gibt, der mit so einem schwierigen Thema umgehen kann, dann Jörg! Ich rief ihn an und bat ihn um ein Gespräch unter vier Augen. Wir trafen uns bei mir zu Hause und ich erzählte ihm, dass ich von jemandem erpresst werde, der damit droht, bestimmte Informationen über mich an den Vereinsvorstand weiterzuleiten. Deshalb sei es besser, wenn er bestimmte Dinge von mir selbst erfährt, bevor andere sie ihm mitteilen. Dann habe ich ihm die Situation geschildert: Von der Gruppe bei der Bewährungshilfe bis hin zu der schwierigen Situation mit Richard, der mich mit seinen Forderungen unter Druck setzt. „Ich habe jetzt keine andere Wahl mehr, als mich selbst zu outen, sonst tut Richard es.“ Jörg ist tatsächlich sehr gefasst damit umgegangen und ließ sich keinen Augenblick aus der Ruhe bringen. Ich versicherte ihm, dass ich niemals Sex mit Kindern hatte und auch niemals haben will. Er glaubte mir und meinte abschließend: „Solange du dir nie etwas zu Schulden kommen lassen hast, sehe ich auch keinen Grund, dir irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen.“ Ich war unglaublich erleichtert! Ich bot ihm an: „Du kannst auch mit meinem Therapeuten sprechen, wenn es dich beruhigt.“ Seine Antwort: „Ich glaub dir auch so.“ Ich wollte es noch genauer wissen und sprach ihn direkt auf den entscheidenden Punkt an: „Und dass ich mit den Jungs spiele...“, fing ich ganz vorsichtig an, „...hab ich auch nichts dagegen!“ beendete er meinen Satz. Ich konnte es kaum glauben: Trotz meiner pädophilen Neigung durfte ich weiter an der Jugendarbeit teilnehmen! Ich war gerührt und hätte vor Freude aufspringen können!
In der nächsten Woche ging ich mit Herzklopfen zum Vereinsabend. Hatte Richard schon zu irgend jemandem etwas gesagt? Jörg als 1. Vorsitzender steht zwar hinter mir, aber was ist mit den anderen, würden sie das genauso locker sehen? Würden sie anfangen zu tuscheln oder mit dem Finger auf mich zeigen? Mir war klar: Es hilft alles nichts, ich muss da jetzt durch! Wenn ich jetzt wegbleibe, dann hat Richard schon gewonnen. Genau diesen Gefallen wollte ich ihm nicht tun. Diesmal hatte ich noch Glück: Von Richard weit und breit keine Spur, alle anderen nett und freundlich wie immer. Da war ich unglaublich erleichtert, wusste aber auch: Ausgestanden ist das noch lange nicht! Irgendwann kommt er wieder und irgendwann wird er etwas sagen. Eine Woche später war es dann soweit. Ich hatte mich inzwischen wieder ein wenig beruhigt und spielte wie immer mit den Kindern. Auf einmal kam Wolfgang, unser stellvertretender Vorsitzender, herein. Es war gegen 18.30 Uhr, ungewöhnlich früh für seine Verhältnisse. „Nanu, du kommst aber früh!“, begrüßte ich ihn. Er fragte mich gleich: „Ist Richard schon da?“ „Nein, Richard war noch nicht hier.“ entgegnete ich ihm. „Komisch“, fuhr er fort, „er hat mich extra angerufen, ich sollte heute eher kommen, er müsste mir unbedingt was wichtiges sagen.“ Mein Puls schoss in die Höhe, denn ich ahnte natürlich, um was es ging! Nun war es also soweit: Richard will seine Drohung wahr machen! Wolfgang hatte er sich also ausgesucht, unseren 2. Vorsitzenden. Nun gut, immerhin ist auch er ein gelassener Mensch, den so schnell nichts umhaut. Ich versuchte mich zu beruhigen und sagte mir: Marco, bleib ganz ruhig, dir kann nichts passieren, Jörg weiß Bescheid und steht hinter dir! Meine größte Sorge war nur: Hoffentlich outet Richard mich wenigstens nicht vor allen Leuten! So wütend, wie der zuletzt war, ist ihm alles zuzutrauen.
Richard kam und kam nicht, was meine Nervosität nur noch weiter ansteigen ließ. Es war schon fast 20 Uhr, als er doch noch kam. Er schnappte sich Wolfgang und ging mit ihm vor die Tür. Durch das Fenster sah ich, wie die beiden sich draußen unterhielten. Als sie wieder herein kamen, nahm ich all meinen Mut zusammen, ging auf Wolfgang zu fragte ihn: „Kann ich dich auch noch einmal kurz sprechen?“ Das war noch einmal ein kritischer Augenblick für mich: Würde er genauso souverän damit umgehen wie Jörg? Wir gingen zusammen in die Küche. Ich kam gleich zur Sache: „Ich kann mir denken, worüber du mit Richard gesprochen hast. Ich nehme an, es ging um mich.“ Er bestätigte mir meine Vermutung: „Ja, das ist richtig“, dann fuhr er ganz locker fort: „Mach dir keine Sorgen, mich haut sowas nicht vom Stuhl. Ich arbeite beim Jugendamt und kenne die Thematik.“ Da fiel mir noch einmal ein großer Stein vom Herzen und ich habe auch ihm die ganze Geschichte erzählt. Er hat es genauso gefasst aufgenommen wie Jörg, auch er versicherte mir, dass er nicht davon ausginge, dass die Kinder durch mich in irgendeiner Weise gefährdet seien. Ich war unendlich erleichtert!
Wolfgang erklärte mir, dass Richard ihn am Abend zuvor das erste Mal angerufen und ihm ganz aufgeregt erzählt hätte, er kenne da jemanden im Verein, der gewisse Neigungen zu Kindern hätte. Daraufhin hätte er ihm geantwortet: „Richard, wenn ich da etwas machen soll, dann musst du mir schon einen Namen sagen. Lass uns Morgen am Vereinsabend noch einmal darüber reden. Ansonsten wäre es vielleicht gut, du sprichst auch noch mal mit Jörg darüber, der ist schließlich 1. Vorsitzender.“ Erst heute Abend hätte Richard ihm meinen Namen genannt. Er hätte erst einmal versucht, ihn zu beruhigen: „Richard, der macht nichts und hat nie etwas gemacht.“ Das Gespräch zwischen Wolfgang und mir wurde sogar ganz entspannt: Ich erzählte Wolfgang von unserer Homepage und erklärte ihm, dass ich mich immer gegen Sex mit Kindern ausgesprochen habe. Ich merkte, mit ihm konnte ich genauso unbefangen reden wie schon mit Jörg. Zum Schluss meinte er noch: „Du brauchst auch keine Angst zu haben, dass ich dich jetzt ständig beobachte und wenn ich es doch einmal tun sollte, dann sag mir bitte Bescheid!“ Er sagte mir zu, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen; außer Jörg und ihm werde niemand davon erfahren. Die beiden würden sich allein darüber beraten, wie es weitergehen soll und was für Konsequenzen daraus gezogen werden müssen.
Ich konnte es mir nicht verkneifen, noch einmal auf Richard zuzugehen, in dem Bewusstsein, dass meine Position jetzt enorm gestärkt war. „Du hast also mit Wolfgang über mich gesprochen?...“ „Ja“, gab er ganz freimütig zu, „und mit Jörg, den hab ich gestern Abend schon angerufen.“ Er hätte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren können, noch länger zu schweigen. Deshalb hätte er sich Wolfgang und Jörg offenbart. Damit sei die Sache für ihn erledigt: „Die beiden haben offenbar kein Problem damit. Der Vorstand steht hinter dir, dann ist das für mich in Ordnung. Ich bin aber nicht Jörg, der das so locker sieht. Ich konnte das nicht mehr für mich behalten, mit der Verantwortung hätte ich nicht leben können. Jetzt müssen Jörg und Wolfgang entscheiden, wie sie damit umgehen.“ Ich war erstaunt, wie freundlich Richard auf einmal wieder zu mir war. Er tat so, als sei nie etwas gewesen. Trotzdem: So wie er sich mir gegenüber verhalten hat, war die Freundschaft für mich vorbei.
Zu guter Letzt habe ich auch mit Jörg noch einmal gesprochen, der inzwischen ebenfalls eingetroffen war. Jörg bestätigte mir, dass Richard ihn am Abend zuvor angerufen und ihm alles erzählt hätte, was er über mich und Christian wüsste. Er hätte versucht, Richard zu beruhigen und ihm erklärt, dass er schon Bescheid wüsste, was mich betrifft, aber derzeit keinen Handlungsbedarf sehe. Trotzdem müsse er Richard schon das Gefühl geben, dass er seine Sorgen um die Kinder ernst nimmt. Er wolle sich demnächst mit Wolfgang, seinem Stellvertreter, zusammensetzen und in aller Ruhe darüber beraten, wie der Verein jetzt und in Zukunft mit solchen Fällen umgehen soll. Ich bräuchte aber nicht zu befürchten, dass man mich von irgend welchen Zeiten ausschließt, das würde ganz bestimmt nicht dabei herauskommen. Ich konnte es kaum glauben: Sollte das Ganze tatsächlich ein gutes Ende gefunden haben? Sollte es wirklich keine Konsequenzen für mich geben? Ich konnte es kaum glauben, wie viel Glück ich hatte! Bei Jörg und Wolfgang habe ich mich ausdrücklich dafür bedankt, dass sie so besonnen mit der Sache umgegangen sind und zu mir gehalten haben.
Seitdem habe ich von keiner Seite mehr etwas gehört. Ich scheine also tatsächlich mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Richard und ich gehen uns konsequent aus dem Weg. Im Verein grüßen wir uns freundlich, aber privat haben wir keinen Kontakt mehr miteinander. Was aus Christian geworden ist, weiß ich nicht. Ich habe ihn seither kein einziges Mal mehr im Verein gesehen. Ob er freiwillig wegbleibt oder ob er nicht mehr kommen darf, weiß ich ebenfalls nicht. Ich möchte da auch nicht noch einmal nachbohren, denn ich bin froh, dass ich selbst unbeschadet davon gekommen bin. Es sieht aber ganz so aus, als hätte einer der beiden Vorsitzenden mit Christian gesprochen. Ich habe nicht gewollt, dass Christian nicht mehr kommen darf. Er hat sich im Verein, soweit ich das beurteilen kann, nie etwas zu Schulden kommen lassen. Solange er den Schachverein benutzt, um mit anderen Erwachsenen in Kontakt zu kommen, kann man ihm das nicht zum Vorwurf machen, das war immer mein Standpunkt. Mir war aber auch klar, dass er jetzt nicht mehr zu halten war, nachdem seine Vergangenheit bekannt geworden war.
Das ist also meine Geschichte. Ich habe sie aufgeschrieben, um meine Erfahrungen an andere Pädophile weiterzugeben. Es dürfte deutlich geworden sein, in welch unangenehme Situationen man sich durch ein unbedachtes Outing bringen kann. Auch Menschen, die scheinbar weltoffen und tolerant sind, bei solchen Themen zeigen sie ihr wahres Gesicht! Heute weiß ich, dass es naiv von mir war, mich jemandem anzuvertrauen, den ich gerade erst ein halbes Jahr kannte. Ich war zu unerfahren in Sachen Freundschaft und hatte noch kein ausreichendes Gespür dafür, wem man vertrauen kann und bei wem man besser vorsichtig sein sollte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als eine echte Freundschaft, wo man sich gegenseitig annimmt mit allen Fehlern und Schwächen, wo man sich so zeigen kann, wie man wirklich ist, ohne sich verstellen oder rechtfertigen zu müssen.
Das Problem ist nur: Je einsamer man sich fühlt, desto größer ist die Gefahr, dass man den falschen Leuten vertraut. Man wird leichtsinnig und betrachtet die Menschen allzu schnell durch die rosarote Brille. Richard hat mir eine Nähe und eine Vertraulichkeit angeboten, die mich überfordert hat und die ich nicht richtig einschätzen konnte. Ich habe ihn völlig falsch eingeschätzt, habe in ihm jemanden gesehen, der er nicht war. Vielleicht habe ich mich auch von Äußerlichkeiten blenden lassen, von Einladungen zum Eis essen, einem teuren Schachspiel und anderen netten Gesten. Mein Vater hat es sehr treffend auf den Punkt gebracht: „Das ist alles noch keine Freundschaft, das sind Gesten. Freundschaft beginnt da, wo er jetzt aufhört!“
Auch dass ich mich Herbert anvertraut habe, war rückblickend sicher nicht empfehlenswert. Die Teilnahme an seiner Gruppe hat mir zwar nicht wirklich weitergeholfen, dennoch war es eine wertvolle Lebenserfahrung für mich. Zum ersten Mal lernte ich einen anderen Pädophilen kennen und merkte: Pädophil ist nicht gleich pädophil! Da gibt es Pädos wie Stephan, mit denen ich viele Gemeinsamkeiten habe und mit denen ich mich sehr verbunden fühle. Es gibt aber auch andere, mit denen ich mich absolut nicht identifizieren kann: Leute, die nur ihre eigenen Interessen sehen und sich über die Bedürfnisse von Kindern systematisch hinwegsetzen. Das bedeutet nicht, dass ich niemals wieder an einer Gruppentherapie teilnehmen würde, ich würde mir die Teilnehmer aber sehr viel genauer ansehen.
Auf der anderen Seite habe ich aber auch positive Erfahrungen gemacht. Hätten wir im Schachverein nicht zwei so besonnene Vorsitzende gehabt, dann hätte das auch ganz anders ausgehen können. Woanders wäre ich möglicherweise vom Verein ausgeschlossen worden. Meine Jugendarbeit, die mir immer so viel bedeutet hat, wäre unwiderbringlich vorbei gewesen. Ich bin mir bewusst, dass auch eine große Portion Glück dabei war. Den beiden Vorsitzenden Jörg und Wolfgang gilt mein großer Dank, dass sie mich trotz meiner pädophilen Neigung weiter am Jugendtraining teilnehmen ließen. Zu danken habe ich auch allen anderen, die mir in dieser schwierigen Zeit beigestanden haben, insbesondere Stephan, meiner Mutter, meinem Vater und meinem Therapeuten. Es bleibt eine also sehr ambivalente Bilanz: Eine missratene Gruppentherapie, eine zerbrochene Freundschaft (die wahrscheinlich gar keine war), aber auch außergewöhnlich viel Verständnis im Schachverein. Man kann auf die erschreckendsten Vorurteile stoßen, aber auch auf erstaunlich viel Toleranz. Das Problem ist nur: Man weiß es vorher nicht, deshalb sollte man im Zweifel sehr vorsichtig sein.
© 2006 Marco