Die Wahrheit liegt nicht immer dort, wo wir sie vermuten, sondern irgendwo dazwischen …

Was denken wir, wenn jemand eine Meinung vertritt, die wir nicht teilen? Über das Leben und die Frage nach der Wahrheit. Darum soll es in diesen Gedanken gehen.

Als Jugendlicher im Alter von 15 Jahren hatte ich einen Freund. Wir spielten zusammen Computer und organisierten unsere ersten LAN-Partys. Die Stimmung entsprach mehreren Litern Cola und glimmenden Zigaretten, die wir heimlich am Dachfenster seines Zimmers rauchten und der Qualm stieg in die Nacht und in das Zimmer der Eltern, die uns dann mit einem lauten „Hier wird nicht geraucht!" schlagartig daran erinnerten, dass wir noch keine Männer sind und jetzt Schicht im Schacht ist.

Und wir redeten viel über gar nichts und wenig über Dinge mit Tiefe, aber irgendwie merkten wir beide, dass wir das brauchten. Und wenn wir diskutierten und unsere pubertären Weltbilder aneinander stießen, waren wir wieder Kinder, die einfach weiter gezockt haben und sich mit einem „Du hast sie ja nicht mehr alle" angelächelt haben. Wir waren berechnend und wussten genau, was wir zu unseren Eltern sagen mussten, um das neueste Spiel zu bekommen. Und unsere Eltern wussten, dass wir nur ein mal fünfzehn sind und uns schon irgendwann der Ernst des Lebens mit voller Wucht treffen würde. Und so kam es auch und mit den Jahren merkte man, dass ein Lächeln nicht mehr reicht und das war ein schönes Gefühl, weil man verantwortlich war und das machte einen erwachsen.

Später begann ich ein Studium und verließ meine Heimat. Im Rausch dieser Großstadt lernte ich viele interessante Leute kennen. Ich besuchte Konzerte in coolen linken Kneipen und Clubs und natürlich diskutierten wir alle miteinander. Über Unis, Hausarbeiten, Semesterpartys, die Liebe und den so furchtbaren Schmerz einer Zerbrochenen. Wir mochten einander und waren interessiert. Wir wollten ergründen, warum jemand eine bestimmte Partei wählt oder wie und warum derjenige sich politisiert hat. Wir wollten verstehen, warum der Kommilitone, den wir erst seit ein paar Wochen kannten, sein Studium abbrechen will.

Wir waren nicht immer einer Meinung. Im Rückblick kann ich sagen, dass wir uns oft „gestritten" haben. Wir haben viele Diskussionen geführt und zu später Stunde waren wir uns zumindest darin einig, dass wir auf dem Boden unserer Gläser keine Antworten finden. Am nächsten Tag saßen wir zusammen in der Uni oder in unseren Nebenjobs und jeder kämpfte seinen eigenen Kampf gegen zu wenig Geld und einer zu hohen Miete.

Und dann traf man sich wieder und es war einem egal, dass man in der Altbau-WG gefroren hat. Wir waren in gewisser Weise eine Gemeinschaft. Einmal erzählte mir jemand, dass er Probleme mit seinem Professor hat. Er wäre immer schlecht gelaunt und könnte ihn nicht ausstehen. Meine damalige Freundin erzählte mir oft, dass ihr Chef sie immer so gemein behandeln würde. Wir hielten zusammen und gaben uns Ratschläge. Als sich nach einiger Zeit abzeichnete, dass einige von uns zu Langzeitstudent:innen werden, haben wir uns dafür nicht fertig gemacht. Klar, natürlich haben wir uns selbst dafür fertig gemacht, aber nicht untereinander. Wir hatten einen guten Umgang damit gefunden, unser „Versagen" zu verarbeiten. Wir begannen, es zu feiern.

Wir schmunzelten darüber, dass wir keine goldene Mastercard von unseren Eltern haben und fühlten uns gut, wenn wir trotzdem unseren Demeter-Wein tranken. Diese Momente waren die ehrlichsten uns die gefühlte Belohnung für unsere Rebellion gegen die Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen mussten. Auseinandersetzungen hören nie auf, die gehören zum Leben. Die Frage ist vielmehr, wie wir damit umgehen. Die Behauptung, dass diese Leichtigkeit nur aus Solidarität heraus in einer „Universitätsromantik" entstehen kann, ist genauso zu kurz gegriffen wie die Behauptung, dass die Menschen sich alle verändert hätten. Unsere Welt ist nicht schlecht und die Menschen darin ebenso wenig. Sehr viel Unverständnis und starke Emotionen wie Hass entstehen aus Angst.

Wir alle haben und werden es in unserem Leben mit Menschen zu tun haben, mit denen wir uns streiten. Wir werden niemals allen Bedürfnissen unserer Mitmenschen gerecht werden können. Zu unterschiedlich sind unsere Erfahrungen und die damit verbundene Prägung. Wir müssen das auch nicht. Wir sollten aber daran denken und uns darauf besinnen, dass unsere Worte eine Kraft haben. Vielleicht antwortet man anders, wenn man seinem Gegenüber richtig zuhört und nicht gedanklich an seiner Antwort arbeitet, während uns etwas erzählt wird?

Abgesehen davon gibt es auch Menschen, die nicht zuhören möchten und nur sich selbst im Sinn haben. Leider ist das Wort "toxisch" zu einem Modebegriff geworden, mit dem oft auch zu voreilig eine gescheiterte zwischenmenschliche Beziehung abgeschrieben werden kann. Aber im Kontext solcher Narzissten, passend wie kein anderes. Auch Narzissmus gehört zum Leben. Ob als schwach ausgeprägter Charakterzug, der zum Top-Management „befähigt" und die Skyline der Fokus ist, oder in Form einer Störung, die schlussendlich zum unvermeidlichen Kontaktabbruch führt.

Wir Menschen müssen mit Ängsten, Enttäuschungen, Verletzungen, Fehlern und gescheiterten Beziehungen umgehen. Manchmal müssen wir dunkle Zeiten überstehen, um wieder mit der Sicherheit aufzuwachen, dass sich die Wolken bald verziehen. Das wissen wir alle. Lasst uns im Hinterkopf behalten, dass wir nicht die Einzigen sind und hinter dem Lächeln oder dem Zorn meines Gegenübers auch eine große Verwundbarkeit sein kann. So wie Tränen manchmal Freude oder Ergriffenheit zeigen, so zeigen Wut und Hass manchmal eine große Traurigkeit oder Enttäuschung. Die Vergebung nach einem Streit ist stärker als das Klammern an einen Schmerz aus vergangener Zeit.